Vipassana: Anwendungsbeispiele

Bei der ein oder anderen mag der Verstand jetzt schon lautstark rebellieren: „Nein, ich will aber denken!! Das ist alles so interessant! Ich will zweifeln! Ich will planen! Darf ich das nicht mehr? Wie lebe ich ohne Erinnerungen? Ohne Hoffnung?“ … Und andere haben vielleicht schon angefangen, sich über den eigenen Ärger zu ärgern …

Meditation und diese ungewöhnliche Herangehensweise, das Leben zu bestreiten, mögen vielen erstmal suspekt sein. Und über die Verstandesschiene zu kommen, um dem Verstand klarzumachen, er dürfe sein Tun minimieren oder teilweise ganz abschalten, ist zugegebenermaßen schwierig. Wie gesagt, man muss es erleben. Es geht eben gerade nicht ums Denken, Reden, Philosophieren, sondern um das Tun und das Sein! Um Verständnis-Schadensbegrenzung zu betreiben möchte ich anhand ein paar Beispiele verdeutlichen, wie es in der Praxis aussehen kann und was gemeint ist.
Grundsätzlich geht es v.a. um die tausenden „Mikromomente“, in denen unbewusst über den Tag verteilt der Geist − unsere geschätzte Aufmerksamkeit − sich mit Irrelevantem beschäftigt und uns vom Jetzt ablenkt. Und uns dadurch das Leben schwer macht: Wir verweilen mehr in Ärger, Zweifel, Sorge, Ängsten, Faulheit … − Und uns ein intensives Erleben (sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen) verwehrt. − Und uns durch die überlagernde Unbewusstheit die Möglichkeit nimmt, zielgerichtet, effektiv, bewusst zu handeln.

Die fünf Hindernisse werden natürlich immer weiter aufkommen, das gehört dazu. Statt diesen aber unbewusst zum Opfer zu fallen, kann mich deren Erkenntnis motivieren, erst bewusst das Ruder zu übernehmen, sie anschließend loszulassen und mich wieder, geistesgegenwärtig, der aktuellen Tätigkeit zuzuwenden.

Du bemerkst, dass dir die Corona-Pandemie Sorgen bereitet und hoffst, dass alles gut wird. Du hast Angst um die Menschen, die sterben können und um dich selbst.
Statt von dieser Angst paralysiert der Situation zuzuschauen oder immer tiefer in ausgedachte Szenarien abzutauchen, realisierst du, dass nur der jetzige Augenblick real ist, mehr nicht. Was kannst du also JETZT machen? (Um dafür zu sorgen, dass künftige gegenwärtige Augenblicke (= die „Zukunft“) angenehmer werden.) Du kaufst FFP2-Masken ein und benutzt sie. Du bleibst nach Möglichkeit zu Hause. Du lässt dich impfen. Du rufst deine Großmutter an, und machst ihr klar, dass jetzt erstmal kein Kaffeekränzchen mehr angesagt ist. Du kalkulierst ohne Sorge, dass du nicht alle Klopapierregale leerkaufen brauchst. Du beobachtest den Verlauf der Pandemie, nicht unbedingt täglich, aber im Groben und passt dein Verhalten entsprechend an. Währenddessen, und danach, lässt du die Sorge und das Hoffen los, um dich auf das (jeweilige!) Jetzt zu konzentrieren.

Du bemerkst bei einem Gespräch, dass du abgelenkt bist, denkst noch über Vergangenheit oder Zukunft nach.
Statt unbewusst weiter über andere Dinge nachzudenken und deiner Gesprächspartnerin nicht (richtig) zuzuhören und halb im Gespräch, halb in Gedanken zu sein, realisierst du, dass diese Gedanken gerade nicht relevant sind. Du lässt sie los und konzentrierst dich auf deine Gesprächspartnerin, was sie sagt, stellst aktiv Fragen und erzählst selber etwas. ODER:
Du realisierst, dass deine Gedanke gerade tatsächlich wichtig sind. Du musst dich um etwas kümmern. Du unterbrichst das Gespräch, erklärst, dass du eben etwas erledigen musst und kümmerst dich drum. Danach wendest du dich wieder voll deiner Gesprächspartnerin zu.

Du ärgerst dich über eine bestimmte Person, sie hat dich beleidigt.
Statt für die nächste (lange) Zeit gegen diese Person Groll zu hegen, ihr immer ein bisschen zu widerstreben (wie ein Tauziehen), in manchen Situationen zu trotzen, ohne aktuellen Grund, sondern aus diesem latenten Widerwillen, realisierst du, dass die vergangene Situation eure Beziehung negativ beeinflusst und sprichst es an. Ihr sprecht euch aus, versöhnt euch, und zieht wieder am selben Strang, was die Interaktion viel mehr „fließen“ lässt. ODER:
Du erkennst, dass die Beleidigung in der Vergangenheit liegt, verstehst, dass es ein Missverständnis war, dass solche Dinge passieren, und dass es für die Gegenwart nicht mehr von Bedeutung ist. Du lässt den Groll los, drückst mit dieser Person mental auf „Reset“ und begegnest ihr im Jetzt aufs Neue.

Du bemerkst beim Lesen, dass du müde bist, und immer wieder mit dem Blick zurückwandern musst, um den Text zu verstehen.
Statt weitere 30 Minuten mit halbgeöffneten Augen mühsam weitere 3 Seiten zu lesen (und dich vermutlich darüber zu ärgern, wie langsam du lesen kannst), legst du dich ins Bett und machst ein kurzes Nap. Den Text liest du zu einem anderen Zeitpunkt, wenn dein Geist aufmerksam und klar ist.

Du fragst dich, welche Ernährungsweise oder Lebensmittel denn „eigentlich gesund“ sind.
Statt im Halbwissen hier ein bisschen Paprika, da ein bisschen Nudeln und zum Nachtisch ein bisschen Donut mit Sellerie zu essen, und im Endeffekt darauf zu hoffen, dass du deinem Körper Gutes tust und schlank wirst, kaufst du dir ein paar Bücher oder setzt dich an den Computer und fängst an zu lesen. So viel zu lesen bis du dir darüber sicher genug bist, was „eigentlich gesund“ ist und dass Donut mit Sellerie in keiner Ernährung ein angemessener Nachtisch ist. ODER:
Du wirst Ernährungsforscher und veranstaltest Studien dazu, erlangst neue Erkenntnisse und treibst den Forschungsstand voran. (Um mal den Wert von bewusstem, aktivem Zweifeln darzustellen!) ODER:
Du erkennst diese vermeintlich interessante/wichtige Frage, beschließt aber bewusst, dich nicht weiter mit diesem komplizierten und schwierigen Thema zu beschäftigen, und einfach nur zu essen, was dir gut schmeckt, ohne dir um irgendwelche Konsequenzen weiter Gedanken zu machen.

Du stellst dir vor, wie schön es doch wäre, mal auf den Philippinen am Strand zu sein.
Statt tagträumend durch die Gegend zu schauen bis jemand fragt, ob alles okay ist, oder den Leuten in deinem Umfeld nur davon vorzuschärmen, „wie schön es denn wäre“, setzt du dich hin und machst einen konkreten Plan. Du tust im Jetzt, was nötig ist, um die Wahrscheinlichkeit, deine Vorstellung zu erleben, zu erhöhen: Du gehst arbeiten, und legst monatlich Geld beiseite. Du surfst im Internet und suchst dir schöne Reiseziele heraus und machst eine Reiseroute. Du fragst deinen Arbeitgeber nach Urlaub. Du buchst Flugtickets.

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