Verständnis

Ihr Lieben,

ich bin zu Coronazeiten schon auf verschiedene Weise und öfter und auch intensiver als sonst schon mit diesem Thema konfrontiert worden und würde gerne mal dazu meine Gedanken festhalten.

Der spült sein Geschirr nicht direkt. Was ein Arsch. Er spült es im Endeffekt GAR NICHT. Dein Ernst?! Der hier muss immer extra lang duschen … Die da drüben lacht immer so komisch? Die andere stopft so viel in sich hinein, dass zwei Leute damit auskommen würden (von den verhungerten Kindern aus Afrika sogar VIER!). Und dick ist sie … Die jetzt erzählt immer so viel (und dann auch noch ungefragt), dass sie im Radio arbeiten müsste … oh man. (Warum erzähle ich eigentlich immer so wenig?) Die andere antwortet nichts, will aber selbst immer alle Antworten haben. Der da (und sowieso ganz viele) meint immer alles bestimmen zu müssen. Ach und ich meine ja immer alles ganz genau zu wissen. Eingebildeter Sack!

Jeder hat so seine Eigenarten.

Durch Hoffnung an die (bzw durch die im Zweifel gebotene) Unschuld des/der Angeklagten und einiges an Metta-Meditation habe ich über die vergangene Zeit die feste Überzeugung entwickelt, dass jeder (auf eventuell sehr verkorkste Weise) nur sein Bestes gibt und fundamental unschuldig ist.

Hast du schon versucht, dich in die andere Person hineinzuversetzen? Wirklich versucht, zu verstehen, wie sie tickt und warum? Oder hast du deine selbstgebastelte Vorstellung/Hypothese davon, wie die andere Person ist (oder insgeheim sein sollte) und versuchst in Wirklichkeit deine Vorstellung zu bestätigen?

Manchmal ist es sinnvoll, die gegenteilige Hypothese zu testen. Und zu gucken, ob das Verhalten (auch) zu dieser positiveren Variante passt.

Vielleicht liebt sie Essen so sehr und ihre Geschmacksknospen geben ihr so ein intensives Geschmackserlebnis, dass ihr das Essen die Kilos wert sind. Oder ihr ist Gesundheit/Aussehen egal(er). Oder sie kann oder will sich nicht so kontrollieren wie ich. Vielleicht duscht er aus seiner Sicht sogar „kurz“. Vielleicht muss man nicht nur etwas erzählen, wenn man gefragt wird. Und vielleicht ist dieses Gesprächsmodell sogar angenehmer. Vielleicht ist sie nicht richtig überzeugt davon, dass ich mich für sie interessiere, oder sie glaubt, nichts Interessantes erzählen zu können. Vielleicht findet sie ja, dass ich komisch lache. Vielleicht ist sein Plan für die Situation ja tatsächlich für alle Beteiligten besser.

Lasst uns, wenn wir die Kraft dazu haben, darum bemühen, besonders verständnisvoll miteinander umzugehen. Gerade in dieser schwierigen Corona-/Lockdown-Zeit. Besonders viel Mitgefühl zeigen. Sich in Geduld üben. Mal innehalten und sich in den anderen hineinversetzen. Versuchen zu verstehen, wieso wohl er/sie/x sich so verhält (und nicht anders).

Ich bin kein Meister darin, bei weitem nicht. Im Gegenteil. Ich schreibe diesen Eintrag, weil ich schon oft „schuldig“* daran war, nicht die andere Seite zu berücksichtigen und auf meine Seite gepocht habe. Kein Verständnis für die andere Person hatte. Und oft passiert mir das immer noch. :( Ich bemühe mich jetzt und schon einige Zeit darum, das zu ändern, wenn ich kann und wenn es mir auffällt. Weil ich immer wieder auch gesehen habe, wie großes Unrecht ich den Personen damit getan habe, nur auf meiner Sicht der Dinge zu verharren. Sie einfach zu tiefst ungerecht behandelt habe. Es ist nicht einfach, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Bin ja schließlich nur ich, ne? Und ich habe eben gute Gründe dafür, so zu sein, wie ich bin. Und finde das oft auch gut und richtig. Aber genauso hat mein Gegenüber wahrscheinlich gute Gründe dafür, so zu sein, wie es ist. Zu erkennen und zu akzeptieren, dass Menschen unterschiedlich sind, und andere Menschen bewusst Dinge anders machen als ich − diese Unterschiedlichkeit der Menschen zu erkennen, zu akzeptieren und sogar wertzuschätzen ist (zumindest für mich) eine der großen Herausforderungen des Lebens. Oder zumindest der Interaktion mit anderen. Ich kann mich natürlich auch in mein Zimmer einschließen und genau nur machen, was mir gefällt. Oder mich nur mit Spiegelbildern meiner Selbst treffen. Leute die quasi sind wie ich, denken wie ich, reden wie ich und das machen würden, was ich machen würde. Mich in meinen Punkten immer bestätigen. Das wäre ja angenehm, aber …

Ich wünsche innere Ruhe im Lockdown! :) Tief einatmen hilft.

Lucas

PS: Mich interessieren deine Erfahrungen dazu! Gelingt es dir andere Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind? Was stößt dir besonders auf, was „triggert“ dich? Wie ist deine emotionale Reaktion? Schreib mir von deiner Erfahrung zu dieser Herausforderung!


* in Anführungszeichen, weil ich entsprechend dieses Eintrages nicht wirklich an das Konzept von Schuld glaube. Jeder gibt immer nur sein Bestes im jeweiligen Moment. Dinge passieren.

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